Lasst uns den Frühling feiern!
Wenn wir das Leben befreien, Schönheit schaffen und gemeinsam in Freiheit leben wollen, dann müssen wir uns auf eine Suche begeben, deren Weg zu uns selbst führt. Wir müssen uns selbst kennenlernen, unsere Gesellschaft und ihre Wurzeln verstehen, die auch unsere eigenen sind. Wir suchen nach unserer Geschichte, der Geschichte der Menschheit, die lange vor der Errichtung des Patriarchats, vor der Entstehung des Kapitalismus beginnt. Wir suchen nach den vielen Jahrtausenden von Geschichte, in denen menschliche Gesellschaften zusammen lebten, ohne einander und die Natur zu unterdrücken. Wir suchen nach ihren Bräuchen, ihrer Sicht auf die Welt, ihren Geschichten. Wie ist das kommunale Leben gewesen, wie wurde die Zeit verbracht, wie miteinander gelebt? Was hat Gemeinschaften verbunden und zusammengehalten? Wie haben sie sich verteidigt und ihre Werte entwickelt und aufrechterhalten?
Die Anfänge der Kultur und Muttergöttinnen
Menschen haben früh begonnen sich Fragen nach der Welt und dem Leben zu stellen und Antworten darauf zu finden. Die ersten Kulturen, die sich daraus entwickelten, beruhten auf der Verehrung der Natur – in Staunen und Ehrfurcht vor den rohen Kräften von Leben und Tod, in Anbetung einer Erde voller außergewöhnlicher Kreaturen und eindrucksvoller Landschaften. Gemeinschaften haben aus der Erfahrung gelernt, auf das Land und den Himmel zu hören, den menschlichen Körper und die Körper aller Lebewesen zu verstehen und die Wirkungsweisen von Kräutern und Früchten zu entdecken. Sie haben die Mächte der sie umgebenden Berge, Flüsse und Quellen erlebt, die Wechsel der Jahreszeiten beobachtet, die Geheimnisse der Sterne und die Bewegungen von Sonne und Mond erforscht. So konnten sie mehr und mehr begreifen, wie alles miteinander verbunden ist und sich gegenseitig bedingt.
Ihr Spiritualität brachte die Vorstellung von Schöpferinnen und Hüterinnen der Welt und des Lebens hervor. Wir nennen diese die Muttergöttinnenkultur. Relikte von ihr sind über die ganze Erde verstreut ausgegraben worden. Ihre Spuren lassen sich in Geschichten finden, die durch die Jahrhunderte und Jahrtausende weitererzählt wurden. Darin tragen die Göttinnen viele verschiedene Namen. In unserer Region hieß sie zum Beispiel Holle, Holda, Helle, Perchta, Bertha, Frigga oder Freya. Die Muttergöttin erschien oftmals in einer Dreifaltigkeit, als junge Frau, Mutter und alte, weise Frau. Zehntausende Jahre lebten Menschen diese Spiritualität, die das Leben, die Gemeinschaft und Natur heiligte.

Werte und gemeinsamen Glauben leben und lebten Menschen unter anderem in Form von Bräuchen, Traditionen, Ritualen aus. Oft orientieren sich diese am sich ewig wiederholenden Zyklus vom Werden und Vergehen der Natur. Jahreskreisfeste gaben dem gemeinsamen Leben eine Struktur, waren Anleitung für Tätigkeiten, wie Sähen, Ernten, Ruhen und Feiern und ein Anlass zum Ausdrücken von Bitten und Dankbarkeit gegenüber den Kräften, die alles gaben und nahmen.
Das letzte Jahreskreisfest war die Tagundnachtgleiche um den 21. März herum. Tagundnachtgleiche bedeutet, wie der Name es sagt, dass Tag und Nacht genau gleich lang sind. Im Mittleren Osten feiern viele Kulturen am 21. März das Neujahrsfest, z.B. das kurdische Newroz-Fest. Nach dem langen Winter beginnt die Wiederauferstehung der Natur. Pflanzen kämpfen sich durch das Erdreich hinaus zum Licht, Knospen erwachen an den Bäumen, Blumen sprießen aus dem Boden, das Wachstum ist nicht mehr aufzuhalten. Die geballte Energie von Mutter Erde ist nie so stark zu spüren wie in diesen Tagen. Das Neue schafft sich seinen Raum, Menschen treffen sich wieder mit Freund*innen und Familie an der frischen Luft, begrünen ihre Gärten oder Balkone und erfreuen sich gemeinsam daran, dass nun die Kälte der Wärme weicht. Wir können die Wildkräuter Giersch, Brennnessel und Bärlauch sammeln und damit unsere Körper reinigen und Kraft sammeln. Licht, Wärme und Energie kommen kraftvoll zurück in die Welt.
Christentum und ältere Bräuche
In der christlich geprägten Kultur gilt als Frühlingsfest das Osterfest. Noch immer erzählen wir uns, dass Nachts ein Hase durch die Gegend hoppelt und bunte Eier versteckt, die wir dann am Morgen suchen gehen. Doch Hase und Eier kommen in der Bibel gar nicht vor, wie auch der Begriff Ostern nicht. Es muss dafür also andere Ursprünge geben. Und diese liegen in den vor-christlichen Kulturen, die zum Teil großen Widerstand gegen die Christianisierung geleistet haben. Während ihre Frühlingsfeste dem Wiedererwachen der Natur nach den Wintermonaten und dem damit verbundene Versprechen der Überwindung des Todes gewidmet waren, feiern Christ*innen zu diesem Zeitpunkt die Wiederauferstehung Jesu und das damit verbundenen Versprechen der Überwindung des Todes. Darin lässt sich nicht nur eine klare Parallele sehen, sondern auch die Verschiebung von einer Kultur. Die einstige Verehrung der Natur selbst, wird abgelöst, durch die Verehrung eines Gottes, der sich über den Menschen und der Natur befindet.
Ein möglicher Ursprung für das Wort Ostern ist das altgermanische Wort Austro, was mit Morgenröte übersetzt werden kann, und seinen Ursprung wiederum im indogermanischen von: hell werden, Feuer holen hat. Der Begriff Ostern kann auch von der Mutter- und Lichtgöttin Ostara hergeleitet werden. Einer keltischen Sage nach hat Ostara zu Anbeginn der Zeit ein Ei gelegt, das sie viele Jahrtausende lang zwischen ihren Brüsten trug, um es zu wärmen und im Anschluss der Dunkelheit zu übergeben. Als das reife Ei schließlich aufbrach, ist aus ihm die ganze Welt geschlüpft: Pflanzen, Gewässer, Menschen und Tiere. Währenddessen ist der Eidotter zur Sonne geworden, die Licht in die Dunkelheit brachte. Die Gabe der Eier, als Sinnbild der Erdenmutter Ostara, ist also ein Ritual, das der Geburt der Erde gedenkt. Hase und Eier sind außerdem sehr alte Symbole für den Frühling und die Fruchtbarkeit. Der Hase, weil er eines der ersten Tiere ist, die im Frühjahr Nachwuchs bekommen und weil er grundsätzlich ein sehr fruchtbares Tier ist. Eine andere Erklärung ist, dass im Vollmond zur Tagundnachtgleiche ein Hase entdeckt werden kann, der Mondhase 🙂
Sowohl das Osterfeuer, als auch die Verwendung von Eiern zum Frühlingsfest, kann bis in den Mittleren Osten zurückverfolgt werden. Auch dort springen Menschen zu Newroz über das Feuer, das zum Sonnenuntergang angezündet wird. Und in der Êzidischen Kultur werden zum «Roten Mittwoch» («Çarşema Sor») Eier bemalt, die die Perle symbolisieren, aus der laut ihrer Erzählung die Welt entstanden ist. Das Kochen der Eier wird als Parallele zur Entstehung des Universums gesehen.
Natürlicherweise legen viele Hühner im Winter keine Eier. Erst mit dem Frühlingsanfang kommen sie zurück. Das Ei ist daher in vielen Kulturen ein Symbol für das Leben und die Fruchtbarkeit und wurde von frühen Christen in Mesopotamien, ebenso wie von Sorben im heutigen Deutschland zum Frühlingsfest bemalt und verschenkt.
Wir sehen also, dass das Christentum, auch wenn es gewaltsam zur dominanten Kultur gemacht wurde, den Glauben, die Symbole und Bräuche der Menschen von davor nicht gänzlich verdrängen konnte. Zum Beispiel werden noch heute an vielen Orten Osterfeuer entzündet, die nicht von der Kirche, sondern von der Dorfgemeinschaft organisiert sind. Menschen kommen dabei zusammen und der Grünschnitt des letzten Jahres wird verbrannt. Auch backen viele Frauen zu Ostern noch immer den aus drei Strängen geflochtenen Osterzopf – ein Symbol dafür, dass Dinge sich wandeln und das Muster dafür neu gewebt wird. Vielleicht auch für die drei Formen der Muttergöttin, die später auch vom Christentum übernommen wurden.
Viele Bräuche sind aber auch dabei zu verschwinden oder längst vergessen worden. Das Räuchern mit getrockneten Kräutern zum Frühlingsputz, das Segnen der Felder, das Abschreiten der Grundstücksgrenzen und die Sprüche oder Gebete, die die Menschen dabei sprachen.
Eine Kultur des Widerstands und der Revolution
Wenn wir ein freies Leben aufbauen wollen, dann brauchen wir auch eine Kultur, die die Werte der moralisch-politischen Gesellschaft enthält, vermittelt und schützt. Wir brauchen Erzählungen, Feste und Bräuche, die die ethischen und politischen Eigenschaften und Werte der Gesellschaft in den Mittelpunkt stellen, sie zusammenbringt, belebt und verbindet. Wir müssen uns diese nicht aus den Fingern saugen. Wir können damit beginnen nach ihnen zu suchen und uns mit dem, was wir finden, auf den Weg zu etwas Neuem machen. Die Suche nach der kommunalen, naturverbundenen, freien Gesellschaft in unserer Geschichte, das Verstehen der Angriffe auf sie und ihres heutigen Zustands, wird uns helfen sie wieder zu stärken, zu errichten und zu verteidigt.
Mit diesen Worten wünschen wir euch einen kraftvollen, verbundenen, widerständigen Frühling – Jin, Jiyan, Azadî!
Aus dem Brief zum Frühling des Jineolojî Komitees Deutschland, 2023