Die allgemein akzeptierte Definition einer sozialistischen Gesellschaft und eines sozialistischen Individuums basiert auf der Überwindung der Entfremdung auf der Grundlage des Klassenbewusstseins. Es heißt, dass das sozialistische Individuum altruistisch (aufopfernd), bescheiden, aktivistisch, revolutionär und gesellschaftlich sein muss. Die hervorstechendsten Merkmale der sozialistischen Identität sind der Klassenselbstmord zur Überwindung der bürgerlichen Eigenschaften, der Bruch mit feudalen und auf reaktionärer Moral beruhenden Formen, die Überwindung des Dogmatismus, ohne dabei liberal zu sein.
Zu diesen Definitionen hat Rêber Apo eine neue hinzugefügt, die ganz einfach und radikal ist. In seinen neuen Bewertungen vertieft er den Gedanken, den er bereits 1997 äußerte: dass das Grundprinzip des Sozialismus darin besteht, den Mann zu töten. Er äußert sich wie folgt über das sozialistische Individuum, genauer gesagt über den sozialistischen Mann:
«Ich habe gesagt, dass das Grundprinzip des Sozialismus die Freiheit der Frau ist. Der Maßstab dafür, ob ein Mann ein Sozialist ist, ist, dass er weiß, wie man richtig mit einer Frau zusammenlebt… Meine erste Prüfung im Sozialismus war zu lernen, wie ich mit einer Frau sprechen kann. Der Sozialismus beginnt an dieser Stelle. Wer nicht weiß, wie man mit einer Frau spricht, kann kein Sozialist sein.»
Was bedeutet es den Sozialismus an der Art und Weise der Beziehung zu Frauen zu messen? Wie kann man die Haltung und Identität einer Frau definieren, die respektiert wird? Was ist die Ursache für Respektlosigkeit gegenüber Frauen? Wann hat sie begonnen? Was sind die Mittel und Methoden der Missachtung? Dies sind die Fragen, die wir in der kommenden Zeit am meisten diskutieren werden.
Der Gipfel der Ehrerbietung für die weibliche Identität findet seinen Ausdruck in der mythologischen Figur der Göttin. Dabei geht es nicht um eine transzendente Macht, die als Glaubens- und Schaffenskraft verehrt wird. Der Respekt vor der gesellschaftlichen Rolle der Frau findet seinen Ausdruck in der Göttinnenidentität. Mit anderen Worten: Der Grund für den Respekt vor der Frau liegt nicht darin, dass sich der Glaube und die Mythologie auf die Mutter-Göttin stützen. Es ist der effektive Zustand der Weiblichkeit im gesellschaftlichen Leben, der geheiligt und in den Rang einer Göttin erhoben wird. Joseph Campbell drückt dies mit folgenden Worten aus: „Der wichtige Punkt in Bezug auf die Göttin ist nicht, ob Frauen auf dem Thron sitzen und zu Herrscherinnen in der matriarchalischen Gesellschaft werden; wichtig ist, ob die Qualität des Frauseins, die Bedeutung der Frau verstanden, anerkannt und respektiert wird.“
Dass Frauen als heilig gesehen werden, beschränkt sich nicht wie oft angenommen auf das Geheimnis der Fruchtbarkeit und Mutterschaft des weiblichen Körpers. Darüber hinaus hat sich die Bedeutung und der Umfang der Mutterschaft auf die Tätigkeit und Führung in vielen Berufen und Tätigkeiten ausgeweitet, auf die Frauen spezialisiert sind. Mit anderen Worten: Frauen haben über einen langen Zeitraum der Geschichte eine respektierte, heilige und wertvolle gesellschaftliche Position inne, nicht nur weil sie gebären können, sondern auch weil sie organisieren, verteidigen und technische und wissenschaftliche Entdeckungen machen.
Der Übergang von dieser würdevollen Position zu einer Situation, in der Frauen nicht einmal mehr als Menschen angesehen werden, in der sie am meisten getötet, geschlagen und misshandelt werden, ist immer noch Gegenstand vieler Diskussionen. Klar ist jedoch, dass es sich dabei nicht um eine natürliche und evolutionäre Entwicklung handelt, sondern um eine Konterrevolution. Aus diesem Grund ist es für eine Frau unter den heutigen Bedingungen eine Ausnahme, sich Respekt zu verschaffen, und dies wird mit großem Aufwand erreicht.
Ich denke, die Lebenserfahrung einer jeden Frau ist voll von Beispielen, die ihr zeigen, dass Respekt wichtiger ist als Liebe. Es gibt viele Situationen, in denen es ausreicht, einige äußerliche Eigenschaften, gefälliges und akzeptables Verhalten zu zeigen, um oberflächlich geliebt zu werden. Die Liebe war für Frauen oft ein Deckmantel für Gewalt, Beleidigung, Mord und Knechtschaft. Im Gegenzug kann der/diejenige, der/die dich liebt, alle deine Grenzen verletzen, von dir erwarten, verlangen oder dir aufzwingen, auf seine/ihre Erwartungen einzugehen, dich zu entwürdigen. Vom Vater geliebt zu werden, von der Mutter geliebt zu werden, von den eigenen Kindern geliebt zu werden, von Freund:innen geliebt zu werden – nicht wenige von uns haben dafür ihre eigene Existenz zerstört.
Bei romantischen Beziehungen handelt es sich um einen sehr viel komplexeren Prozess, der in der psychologischen Literatur inzwischen verschiedene Namen hat. Emotionale Manipulation und Missbrauch, Gaslighting, narzisstische Partner:in oder toxische Beziehungen sind einige der Themen, die in aktuellen und populären Veröffentlichungen behandelt werden. Anstatt diese Themen jedoch als soziologisches Problem zu behandeln, wird die dahinter stehende Vergewaltigungskultur verschleiert, indem all das als individuelles, psychologisches Problem behandelt wird. Die Sati-Tradition tritt in der Neuzeit in verschiedenen Gewändern auf. Es gibt eine eindeutige Parallelität zwischen der Realität einer Frau, die nach dem Tod ihres Mannes freiwillig ins Feuer geht, was bedeutet, keusch zu sein, und einer Frau, von der verlangt wird, dass sie ihren Körper jung, gepflegt und fit für das Vergnügen eines Mannes hält. Es gibt auch eine Parallelität zwischen Frauen, die als unkeusch beurteilt und in lebende Tote verwandelt werden, weil sie nicht freiwillig in den Tod gehen, wie es die Sati-Tradition vorsieht, und Frauen, die dafür verurteilt werden, nicht dünn genug zu sein, nicht jung und schön genug zu sein, nicht gut genug als Mutter und Ehefrau zu sein. Der Mangel an Liebe oder das Verlangen, die eigene Existenz durch die Aufmerksamkeit eines anderen zu rechtfertigen, sind die Gefühle, die am anfälligsten für Manipulation und Missbrauch sind.
Geliebt zu werden muss immer mit dem Prinzip des Respekts einhergehen. Dies ist auch in den Beziehungen zwischen Frauen wichtig, aber in den Beziehungen zu Männern ist es unverzichtbar. Respekt schafft Distanz. Ihr könnt eure Existenz nicht schützen, ohne Grenzen und Distanzen zu denjenigen zu setzen, die eure Lebensräume, Entscheidungen, Gefühle und Gedanken nicht schätzen und respektieren. Es handelt sich dabei nicht um Grenzen, die darauf beruhen, dass man sich von der Gesellschaft entfernt und einen einsamen und individualistischen Lebensstil entwickelt. Das was als Vergewaltigungskultur bezeichnet wird, ist im Wesentlichen eine Verletzung von Grenzen. Diese Grenzen bedeuten nicht das Errichten dicker Mauern, in denen wir uns aus allen gesellschftlichen Beziehungen zurückziehen, sondern im Gegenteil, sie sind der Kampf um die Durchsetzung ethischer und ästhetischer Maßstäbe auf der Grundlage der Freiheit. Es ist auch eine Form der persönlichen und kollektiven Selbstverteidigung, diejenigen aufmerksam zu machen, zu bilden und zurückzuweisen, die nicht erkennen, dass sie die autonomen Grenzen der eigenen Persönlichkeit und Identität besetzen. Wichtig ist, eine klare Haltung zu haben, nicht nur in Hinblick auf sich selbst als Individuum, sondern gegenüber jeder Form von Beziehung, in denen Frauen nicht respektiert werden.
Erstmals veröffentlicht auf Türkisch: https://www.ozgurpolitika.com/haberi-kadina-saygi-ve-sosyalizm-201367