Die gesunde Gesellschaft als Lebenselixier der Freiheit

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Die Frage nach der Wichtigkeit von Gesundheit stellt sich sehr schnell, wenn wir beachten, dass der Körper unsere physische Verteidigung unserer Gedanken, unseres Geistes und unserer Gefühlswelt ist. Gesundheit handelt auch von der Gesellschaft in der wir leben und uns gegenseitig Halt und Vertrauen geben, also eine ganzheitliche Herangehensweise: mit was für einer Mentalität leben und handeln wir, was teilen wir, wie denken, reden und essen wir?

Suchen wir nach der Tiefe der Bedeutung des Wortes Gesundheit, auf kurdisch „tenduristî“, führt uns die Etymologie zu den Wurzeln des Wortes in dem heiligen Buch Avesta der Zarathustrier, die Vorfahren der Meder und somit auch der kurdischen Sprache. Dort ist der Wortstamm „tanû+durist“ eng verbunden mit der Bedeutung „wahrhaftig, korrekt, glaubwürdig, gerade, gerecht“ und im farsî wurde daraus „ten“ und später auf kurmancî „ten+ik“, was so viel wie dünn, nicht dick bedeutet und sehr wahrscheinlich von der körperlichen Verfassung im sportlichen Sinne kommt. Also ein Körper der nicht krank ist, der gesund und lebendig ist. Weitere interessante Ergebnisse erhalten wir bei der Suche nach den Wörtern „Doktor“ und „Medicine“. Doktor entspringt dem Wortstamm „dot“ und im farsî „duxt“. In sanskrit „duhitr“ oder altgriechisch „thugatêr“ also von Tochter. „dot“ oder „dotîn“ sind kurdische Begriffe und bedeuten soviel wie Mädchen oder melken. Also in der Vordomestizierung die Gewinnung von Milch der Schafe oder Kühe, was eine Kunst der Frauen war. Wenn wir diese Erkenntnisse miteinander verbinden, ergibt sich ein Bild von der wissenden Frau, die Doktorin (Professorin oder Lehrerin), die Milch – ein Lebenselixier des Lebens – für die Gemeinschaft herstellt. Medicine bedeutet in der heiligen Schrift Avesta „vî-mad“, also von den Mader abstammend und bedeutet so viel wie „doctor“ oder griechisch „medomaî“, was im Lateinischen zu „medicî“ für Medizin wurde. Daraus können wir schließen, dass die ersten Doktoren, oder Lehrerinnen für Gesundheit, Frauen waren, die aus dem Gebiet Media (im Zagrosgebirge), in dem die kurdischen Vorfahren, die Meder lebten, abstammen.

Durch die positivistische Wissenschaft der Medizin fand ein Angriff auf unser Verständnis von Gesundheit statt: Wir sind vom Menschen zum Patienten und Kunden geworden. Wir leben in der kapitalistischen Moderne nicht in einer gesunden Umgebung, so dass auch unser Gesundheitswesen zum Krankheitswesen verwandelt wurde. Die Gesellschaft wurde krank gemacht und nun betreibt der Staat für sie Krankenhäuser, statt Heilstätten und Gesundheitszentren, die in unseren eigenen Händen liegen.

Die Jineolojî bemüht sich, den Gesundheitsbereich wieder in die Verantwortung der heilenden Hände der Frau zurück zu führen. Dafür werden Akademien der Naturheilmedizin aufgebaut, in denen das Bewusstsein über die Gesundheit gestärkt wird, und dieses Wissen in die Kommunen zurücktragen wird. Mit dem Ansatz der Soziologie der Freiheit versucht die Jineolojî in alle Lebensbereiche einzuwirken und Lösungen zu finden. Neben Bildung, Geschichte, Ökologie, Wirtschaft, Ethik und Ästhetik, Demografie und Politik, ist die Gesundheit ein wichtiges Standbein, in der die Jineolojî ihre Forschung weiter treibt, um sie zu vervollständigen und das Wissen, was unter den Frauen und in den Naturgesellschaften weit verbreitet war, wieder zusammen zu tragen und der Gesellschaft als Teil ihrer Selbstbestimmung und Selbstverteidigung zur Verfügung zu stellen.

Wie kann nun also Gesundheit, Medizin und Heilung aus der Perspektive der Jineolojî betrachtet werden? Diane Stein verfasste 1990 ein Buch mit dem Titel „all women are healers“ über die heilende Kraft der Frau. Durch das Forschen, Experimentieren und Praktizieren natürlicher Heilung verändern und gestalten Frauen die Zukunft des Gesundheitswesens. Trotz heftiger Widerstände oder fehlender Anerkennung durch die patriarchale positivistische Medizin bewirken sie dennoch positive Veränderungen, die weitergehen und sich noch weiter verstärken werden. Die Betonung der Selbstheilung aus der heilenden Hand der Frau bringt die Gesundheitsfürsorge zum ersten Mal seit Jahrtausenden zurück zum Menschen, zum Leben und zum Körper der Frau. Das positivistische medizinische Wissenschaftssystem kann die heilenden Hände von Frauen nicht kontrollieren, auch wenn es über tausende von Jahren versuchte, dieses Wissen unter ihre Kontrolle zu bringen. Es ist unser Recht als Töchter, die die Inquisition nicht vernichten konnte, uns wieder an dieses Wissen anzunähern und die Naturheilkunde wieder zum Gesundheitssystems unseres Körpers, Geistes und unserer Gedanken werden zu lassen.

Der genaue Zeitpunkt, seit wann es die Medizin gibt, ist schwer festzulegen, denn so lange es Menschen gibt, gibt es Lösungsversuche für Krankheiten. Oft waren es die Frauen, die sich damit beschäftigten, da sie am nächsten an Leben und Tod waren und sich über die Geburten viel mit dem Thema Gesundheit beschäftigten.

In der Mythologie gibt es einige Beispiele der Medizin, bei der die ersten dokumentierten Aspekte von Heilung durch Göttinnen vertreten sind. Auch hier sehen wir, dass der Ursprung bei den Frauen lag.

→ Hygieia oder Hygeia ist in der griechischen Mythologie die Heilgottheit oder die Göttin der Gesundheit. Ihre Schwestern Iaso, Akeso und Panakeia, sind die Göttinen der Medizin und der Zauberei. Das Wort Hygiene ist von dem Adjektiv hygieinós (ὑγιεινός „der Gesundheit dienlich“) abgeleitet. Hygieia gilt als Schutzpatronin der Apothekerinnen und Apotheker. Bis heute hält sich ihr Symbol der Schlange, mit der sie oft abgebildet wird, an jeder Apotheke.

→ Hekate ist die Göttin der Magie und Geburtshilfe. Sie hat Zugang zu der Unterwelt und dem Verborgenen. In ihrer frühzeitlichen Darstellung aus Kleinasien wird sie als alleinige Figur dargestellt, ab dem 4. Jh. v. Chr. wird sie oft als dreigestaltige Göttin dargestellt, in der Figur von drei jungen Frauen. Sie gilt als die Pflegerin aller Geschöpfe und ist sehr stark mit den Menschen verbunden.

Die Frauen waren diejenigen, die Menschen heilen konnten, gleichzeitig aber auch das Wissen darüber hatten, wie man Menschen vergiften oder mit schlechter Energie bestrafen kann. Davon fühlten sich die meisten Männer sehr eingeschüchtert oder hatten gar Angst. Die Bestimmung über Leben und Tod lag nicht in ihrer Macht, wohingegen die Frauen diese Art von Wissen aus einer Jahrhunderte alten Tradition besaßen. Die Herrschenden hatten solche große Angst davor, dass Heinrich Kramer, ein deutscher Theologe und Inquisitor, mit dem Hexenhammer (1486) die Hexenverfolgung legitimierte, die bis ins späte 17. Jahrhundert ihr Unwesen trieb. Heute können wir sehen, wie viel Schaden die Inquisition der gesamten Gesellschaft angerichtet hat. Nicht nur, dass abertausende Frauen auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden oder mit grässlichsten Foltermethoden zum Schweigen gebracht wurden. Dieser Wahn, alle heilkundigen Frauen, Medizinerinnen, Kräuterfrauen, Alchemistinnen auszulöschen, weil sie ihnen Angst machten, führte dazu, dass eine Großteil an Wissen über Gesundheit und Heilung für die gesamte Menschheit verloren gegangen ist.

Die historischen Brüche zwischen den Geschlechtern aus der Perspektive der Jineolojî lassen sich auch auf die Medizin und das Gesundheitsverständnis der Gesellschaft übertragen. Im Zeitalter der Industrialisierung und Technisierung, den Vorläufern der kapitalistischen Moderne, ist auch in der Wissenschaft dieses Bild des allwissenden Mannes im weißen Kittel entstanden, welches die Schamanin abgelöst hat. Aus medizinischen und biologischen Experimenten an den objektivierten Körpern von Frauen oder Pflanzen, wie bei der Gentechnologie, wurden wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen, um daraus ein Krankheitsbild zu erschaffen, welches wiederum mit Medikamenten aus der Pharmaindustrie geheilt oder gelindert werden kann.

Statt ein ganzheitliches Verständnis von Mensch, Natur, Umwelt und Gesundheit, entsteht der Patient als Ware, der mit zerstückelter Medizin geheilt werden soll.

Für eine gesunde Gesellschaft ist es also notwendig, eine ganzheitliche Herangehensweise an unser Leben und eine Verbindung zwischen unserem Empfinden, unserem Körper und unserem Geist herzustellen. In der dritten Verteidigungsschrift „Soziologie der Freiheit“, beschreibt Abdullah Öcalan die Symbiose von Gesundheit und Gesellschaft folgendermaßen:

„Die Basis, Existenz und Freiheit einer Gesellschaft, die ihre Gesundheit mit ihren eigenen Ressourcen nicht schützen kann, sind entweder bedroht oder gänzlich verloren. Die Abhängigkeit im Gesundheitsbereich ist ein Indikator für allgemeine Abhängigkeit. Eine Gesellschaft, die ihre physischen und geistigen Gesundheitsprobleme gelöst hat, hält die Emanzipationsmöglichkeit in ihren eigenen Händen. Verbreitete Krankheiten in kolonialisierten Gesellschaften hängen mit dem Kolonialregime zusammen. Die eigenen Gesundheitsinstitutionen zu errichten und -experten auszubilden, ist als grundsätzliches Recht und Aufgabe der Gesellschaft anzusehen. Dass die Macht und der Staat diese Aufgabe der Gesellschaft entreißen, in ihre eigenen Hände nehmen und monopolisieren, ist ein heftiger Schlag auf die gesellschaftliche Gesundheit. Der Kampf für das Recht auf Gesundheit ist die Sensibilität der Gesellschaft gegenüber ihrem Selbstrespekt und ihrer Freiheit.“ (S. 174)

Die Geschichte kann für uns eine Lehre sein, aus der wir viel lernen können, gleichzeitig bedeutet es aber auch, dass wir einiges an angelerntem Wissen wieder entlernen müssen, um wieder zu dem Ursprung von Gesundheit einer Gesellschaft zurück zu kommen. Dafür möchte ich nochmal in die Tiefe der Etymologie einsteigen, die uns eine kollektive Verantwortung überträgt, wenn wir sie richtig verstehen wollen. Aus dem Wort Doktor entspringt die Doktrin, also die Lehre, die wir ziehen können. Es ist nicht die Doktrin der kapitalistischen Moderne, noch ihr Glaube an die positivstische Wissenschaft, die uns ein gesundes Leben ermöglicht, sondern die Lehre, die wir aus der Geschichte ziehen können, dass der Mensch ein vielschichtiges Wesen ist, genau wie der Knoblauch. Warum der Knoblauch? Um zu beweisen, dass der Knoblauch keine Heilwirkung hat, wurde er isoliert, seine Essenz extrahiert und alleine betrachtet und analysiert. Doch nicht das Isolat an sich trägt die Wirkung in sich, sondern die Kombination aller Stoffe einer Pflanze und in ihrer verschiedenartigen Kombination. Statt nur die Symptome zu bekämpfen, sollten wir anfangen, nach den Ursachen zu fragen. Dem Leben kann und wird die patriarchale, objektive Wissenschaftsmedizin nicht gerecht werden. Je länger wir verhindern, dass ein tieferes Denken gedeihen und wachsen kann, desto mehr werden wir uns von der gesunden Gesellschaft entfernen und an den Nationalstaat und die Wissenschaft gebunden sein, statt uns weiter auf die Suche nach Möglichkeiten der Selbstermächtigung zu begeben. Ein Weg zeigt uns Abdullah Öcalan in seinem Buch mit dem vielsagenden Titel «Jenseits von Staat Macht und Gewalt», in dem er die Bedeutung der Gesellschaft als soziologische Tatsache beschreibt, dessen Verantwortung wir uns als Teil von ihr nicht entziehen dürfen:

„Wenn wir uns ansehen, wie das kapitalistische System das Individuum ausgehöhlt und wieder auf einen Primaten reduziert hat, können wir diese kommunale und demokratische Handlungsweise nicht ignorieren. Selbst auf der primitivsten Stufe kann das Individuum auf sich allein gestellt und ohne ein kommunales System der Gesellschaft keinen Tag lang überleben. Auch wenn durch alle möglichen Arten von Gehirnwäsche versucht wird, die Bedeutung der Gesellschaft zu verleugnen, so handelt es sich dabei doch trotzdem um eine grundlegende soziologische Tatsache.“ (S. 174)

Mit der Gesundheit verhält es sich nicht anders. Wenn wir verstehen, dass unser Körper der Schutz für unsere Gedanken, unser Fühlen und unser Handeln ist, dann wäre es fatal, ihm das Lebenselixier zu entziehen und ihn so von der Freiheit abzuschneiden. Daraus ergibt sich die Wichtigkeit von Gesundheit und Fürsorge in unserem politischen Handeln. Diese Erkenntnis führt zur wahren Existenz eines gesunden Lebens in Freiheit.

Amara Dorşîn

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