Guerilla Göttinnen

Die kurdische Frauenbewegung ist die best organisierte, am weitesten verbreitete und dynamischste Frauenbewegung im Nahen Osten. Die kurdischen Frauen, die gegen koloniale Unterdrückung und Faschismus kämpfen und den Kampf für die Befreiung der Frauen organisieren, haben weltweit Aufmerksamkeit erregt.

Wie sind Frauen aus einer der am stärksten unterdrückten und verleugneten Gesellschaften der heutigen Welt zu einer Quelle der Hoffnung und Inspiration für Frauen und Menschen geworden, die überall auf der Welt für Freiheit kämpfen?

Um dies zu verstehen, müssen wir einen genaueren Blick auf die Geschichte und die Bedingungen werfen, unter denen die Saat der kurdischen Frauenbewegung gesät wurde und seit vier Jahrzehnten wächst.

Frauen auf den Spuren von Ištar und der neolithischen Revolution

Statue einer Muttergöttin aus dem alten Mesopotamien

Die Wurzeln der Kurden liegen tief in der alten Geschichte Mesopotamiens, das als Wiege der Menschheit bekannt ist. In dieser Region gab es, schon lange bevor es Götter gab, Göttinnen. Inanna – auch bekannt als Îştar oder Astarte – war eine dieser Göttinnen, die die wichtige Rolle der Frauen in den alten Gesellschaften Mesopotamiens symbolisieren. Die Ureinwohner Mesopotamiens, die Kurden, Perser, Syrer, Aramäer, Chaldäer, Armenier, Araber und Hebräer, verehrten Göttinnen als Schöpferinnen und Beschützerinnen des Lebens. Skulpturen von Muttergöttinnen, Mythen, antike Architektur und Tempel, zeigen uns die entscheidende Rolle, die Frauen in dieser Zeit spielten, indem sie Leben und Gesellschaft aufbauten, Wissen schufen und materielle und immaterielle Werte teilten. Frauen legten den Grundstein für eine sesshafte, dörfliche Lebensform, die auf Landwirtschaft beruhte und gleichzeitig die Natur und gemeinschaftliche Werte schätzte. Diese neolithische Revolution, die um 12.000 v. Chr. begann, war eine Revolution der Frauen.

Vor etwa 5000 Jahren begann ein Prozess, der einen tiefen Bruch in der Geschichte und Kultur der Menschheit verursachte: Männliche Eliten von Priestern, Königen und Soldaten begannen, die Schöpfungen und das Wissen der Frauen zu konfiszieren und zu vereinnahmen. Anstatt Ressourcen zum Wohle der Gesellschaft zu nutzen, häuften sie diese an und nutzten sie, um Macht zu erlangen. Die männliche Herrschaft schuf Hierarchien, Klassensysteme und den Staat. Frauen wurden in den patriarchalen Staats- und Familienstrukturen zum Eigentum und zur sogenannten Ehre der Männer.

Abdullah Öcalan beschreibt dies als eine «Gegenrevolution», die sich gegen Frauen und gegen die Werte der Neolithischen Revolution richtete. Mit dem Ausdruck, Frauen seien “die erste und letzte Kolonie”, bringt er die dadurch verursachte Zerstörung und Entfremdung auf den Punkt.

Im patriarchal-feudalen System wurden die Identitäten der Frauen auf ihre Beziehung zu den Männern reduziert: Tochter, Frau, Mutter, Schwester… sie waren von nun an entweder Objekt oder Gebärmaschine. Sie wurden ihrer Rechte beraubt. Die Kurden gehörten meist dem zoroastrischen Glauben an und hatten eine starke Verbindung zu den Traditionen der Muttergöttin-Kultur. Aber insbesondere mit dem Aufkommen monotheistischer Religionen, der Ausdehnung arabischer Dynastien und der Durchsetzung des Islam in der kurdischen Gesellschaft ab dem 8. Jahrhundert, wurden die patriarchalen Normen, die den Frauen auferlegt wurden, verstärkt.

Wer sind die Kurden?

Heute sind die meisten Kurden muslimischen Glaubens, aber es gibt auch Kurden alevitischen, ezidischen, kakeiischen, zoroastrischen, failianischen, schabakischen, jüdischen und christlichen Glaubens. Die kurdische Sprache ist indoeuropäisch und hat mehrere Dialekte wie Kurmanci, Sorani, Zazaki, Kelhuri und Hewrami/Gorani.
Mit einer Bevölkerung von über 40 Millionen Menschen sind die Kurden eines der größten Völker der Welt, das keinen Nationalstaat besitzt. Bis zum Ersten Weltkrieg lebten die Kurden überwiegend unter der Herrschaft des Osmanischen, Persischen und anderer Reiche. Die Geschichte der kurdischen Stämme ist eine Geschichte des Widerstandes, an der sich Frauen oft beteiligt haben, oder die sie angeführt haben. Es gelang ihnen, ihre Sprache, Kultur und ein gewisses Maß an lokaler Autonomie zu bewahren.

Kurdistan geteilt zwischen der Türkei, Iran, Irak und Syrien

Nach dem Ersten Weltkrieg verfassten die internationalen Mächte 1923 den Vertrag von Lausanne. Kurdistan wurde in vier Teile geteilt. Seitdem sind die Kurden gezwungen, unter der Herrschaft der neu geschaffenen Nationalstaaten Türkei, Iran, Irak und Syrien zu leben. Die Kurden als Nation hatten keinen Rechtsstatus und keine Rechte mehr. Der kurdische Widerstand hielt an, wurde aber mit Massakern und Völkermorden grausam unterdrückt. Als Teil ihrer Homogenisierungspolitik begannen die kolonialen Nationalstaaten einen kulturellen Völkermord: die kurdische Sprache und kurdische Namen wurden verboten; die Existenz des kurdischen Volkes wurde geleugnet; das kurdische Volk wurde von seinen Herkunftsorten deportiert. Es wurde sogar zu einem Verbrechen, über die Kurden und die kurdische Kultur zu sprechen, zu schreiben oder zu singen. Die kurdischen Frauen haben diese Unterdrückung ebenso als Volk, wie als Frauen unter dem Patriarchat erlitten.

Wirtschaftliche Vernachlässigung, sowie nationale und politische Unterdrückung in allen vier Teilen Kurdistans, führten zu Vertreibung und Migration. Aus diesem Grund gibt es heute eine kurdische Diaspora von vier Millionen Menschen; 2,5 Millionen von ihnen leben in europäischen Ländern.

Die von der PKK geführte kurdische Freiheitsbewegung und der Kampf für die Befreiung der Frauen in Kurdistan

Als sich in den späten 60er Jahren sozialistische Jugendbewegungen und Kämpfe für nationale Befreiung auf der ganzen Welt ausbreiteten, entstand in der Türkei eine starke revolutionäre Jugendbewegung. Vor diesem Hintergrund rief Abdullah Öcalan die kurdische Befreiungsbewegung mit dem Ausruf «Kurdistan ist eine Kolonie» zusammen. Zusammen mit anderen revolutionären kurdischen und türkischen Studierenden gründete er 1978 die revolutionäre Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) für das Selbstbestimmungsrecht des kurdischen Volkes. Inspiriert von marxistisch-leninistischen und maoistischen Theorien war es das Ziel der PKK, ein unabhängiges, vereintes, sozialistisches Kurdistan zu erreichen.

Von Anfang an schlossen sich Revolutionärinnen wie Sakine Cansiz als Kämpferinnen der Partei an. Für die Frauen bedeutete dieser Kampf nicht nur ein Kampf gegen den kolonialen Staat, sondern auch gegen die patriarchalen Einschränkungen von Familie und Gesellschaft. Rückblickend auf die frühen Zeiten der Bewegung, beschreibt Sakine Cansiz ihre Begeisterung, sich dem revolutionären Kampf für Kurdistan anzuschließen, mit diesen Worten:

«In dieser Bewegung ging es um das Wesen der Menschheit. All unsere Debatten, unsere Bildungen und Reden, beginnen mit der Menschlichkeit und den menschlichen Werten. Wir sprachen über die menschliche Situation in der Vergangenheit, in verschiedenen historischen Phasen und diskutierten die Werte der Menschlichkeit. Frauen, die [die Gesellschaft] verstehen wollten, fanden sich in dieser Bewegung wieder. Ganz am Anfang des Kampfes für Kurdistan und des politischen Kampfes war die Beteiligung von Frauen sehr schwierig. Dennoch ist es uns gelungen [sie mit einzubeziehen], und das gab uns die Kraft, unsere Bewegung zu formen».

Sakine Cansiz (Hevala Sara)

Nach dem von der NATO koordinierten faschistischen Militärputsch von 1980, wurde die gut organisierte linke Bewegung in der Türkei fast ausgelöscht. Tausende wurden getötet, Zehntausende inhaftiert und von den türkischen Staatskräften grausam gefoltert. Politische Gefangene der PKK eröffneten mit dem Aufruf «Berxwedan jiyan e! – Widerstand ist Leben!» im Gefängnis von Diyarbakir eine neue Widerstandsfront. Sakine Cansiz war eine der führenden Figuren dieses historischen Widerstands, der die kurdische Gesellschaft, insbesondere kurdische Frauen, weltweit mobilisierte. Sie und ihre Genossinnen zeigten den revolutionären Willen und die Fähigkeit der Frauen, unter allen Bedingungen zu kämpfen und stellten das Frauenbild in der kurdischen Gesellschaft in Frage.

1984 feuerten die Guerillakräfte der PKK die erste Kugel des bewaffneten Kampfes ab. Damit schlugen sie nicht nur gegen den türkischen Staat zurück, sondern auch gegen Hunderte von Jahren der Sklaverei und Unterdrückung. Zu dieser Zeit identifizierten sich Menschen aus allen Teilen der kurdischen Gesellschaft, insbesondere Arbeiter_innen und Arme aus den ländlichen Gebieten, mit dem Kampf und organisierten sich unter dem Banner der Nationalen Befreiungsfront Kurdistans (ERNK). Die kurdischen Frauen gründeten 1987 die Union der Frauen Kurdistans für die Heimat JJWK.

Die politische Organisation der kurdischen Frauen wurde durch die Analysen des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan stark inspiriert. Seine Theorie, dass «die Befreiung Kurdistans und der kurdischen Gesellschaft nicht ohne die Befreiung der Frauen erreicht werden kann», gab den Frauen immer mehr Selbstvertrauen, sich aktiv an der politischen Arbeit und am Widerstand zu beteiligen. Kämpferinnen und die kurdische Gesellschaft wurden auch von Guerillakämpferinnen wie Hevala Azîme Demirtaş und Hevala Bese Anuş inspiriert, die ihr Leben für die Befreiung opferten, sowie von den Frauen, die durch das Beispiel ihrer revolutionären Persönlichkeiten zu Vorreiterinnen des organisierten Widerstandes der kurdischen Gesellschaft wurden, wie Hevala Bêrîvan (Binevş Agal).

Frauen wurden zur Hauptkraft der Aufstände des kurdischen Volkes in den späten 1980er Jahren. Hunderttausende Frauen in den Städten und Dörfern Nordkurdistans verließen ihre Häuser und gingen auf die Straße. Getrieben vom Streben nach Freiheit und mit Steinen in der Hand, widersetzten sie sich den Massakern der türkischen Armee und der Zerstörung ihrer Dörfer.

Hevala Bêrîtan (Gulnas Karataş)

Diese Aufstände hinterließen wichtige Spuren in der Geschichte. Bis Anfang der 1990er Jahre hatte sich die PKK zu einer Massenbewegung entwickelt. Tausende Frauen griffen zur Waffe, schlossen sich den Guerillakräften an und stellten die patriarchalen Geschlechterrollen innerhalb der Bewegung und in der Gesellschaft in Frage. Die militanten Frauen hatten mit der feudalen und patriarchalen Haltung ihrer männlichen Genossen zu kämpfen, die Frauen als «schwächer» und «verletzlicher» sahen. Viele Kämpferinnen und Kommandeurinnen wie Hevala Bêrîtan (Gulnas Karataş) nahmen den Kampf auf und forderten ihren Willen und ihren rechtmäßigen Platz an allen Fronten des Widerstands ein. In diesem Sinne sagte Hevala Bêrîtan:

«Kämpfe, meine Liebe, kämpfe mit aller Kraft! Durch unseren Kampf existieren wir. Durch unseren Kampf werden wir frei und schön und noch viel mehr. Durch unseren Kampf lieben wir.»

Die Perspektive von Abdullah Öcalan war die größte Unterstützung für die Gründung der Frauenbefreiungsbewegung in den Bergen Kurdistans. In seinen Analysen darüber, wie die Auswirkungen des Patriarchats und des Kolonialismus auf die kurdische Gesellschaft überwunden werden können, entwickelte er Methoden der «Persönlichkeitsanalyse»: Er hinterfragte gründlich die Mentalität der unterdrückten Frau und des dominanten Mannes, sowie die ihr zugrunde liegenden Familienstrukturen und Geschlechterrollen. Der wichtigste Schritt war, dass Frauen Liebe und Respekt gegenüber dem eigenen Geschlecht und der eigenen Identität entwickeln, Entfremdung überwinden und Selbstvertrauen sowie Vertrauen in andere Frauen gewinnen.

1993 schlug Abdullah Öcalan die Schaffung einer Frauenarmee innerhalb der Guerilla vor. Frauen, die diese Initiative ergriffen, bezeichnen dies als die größte Herausforderung ihres Lebens. Von nun an mussten sie sich selbst organisieren und über alle Aspekte des Lebens und des Guerillakriegs entscheiden. Die Frauen waren mit ihren eigenen verinnerlichten patriarchalen Mustern konfrontiert, während sie gleichzeitig die männliche Herrschaft analysierten. Sie sammelten ideologische, militärische, politische und soziale Kenntnisse und Erfahrungen. Auch die sexistischen Einstellungen der Männer veränderten sich, sobald sich die Frauen zusammen taten und an Selbstvertrauen gewannen. Revolutionäre Veränderungen fanden in der Denkweise, in den Genossenschaftsbeziehungen zwischen Männern und Frauen, sowie in der kurdischen Gesellschaft statt. Was sie vollbrachten war nichts Geringeres als eine Revolution innerhalb der Revolution.

1995 fand in den Bergen der erste Nationale Frauenkongress mit 300 Frauen statt. Die Kurdische Frauenfreiheitsunion YAJK wurde gegründet. Dies war eine entscheidende Etappe bei der Umsetzung einer autonomen Frauenorganisation, die auf dem unabhängigen Willen und der politischen und sozialen Perspektive der Frauen aufbaut.

In den 1990er Jahren entwickelte Abdullah Öcalan eine radikale neue Ideologie für die Befreiung von Geschlecht und Gesellschaft. Er sah, dass in den Beziehungen und Geschlechtsidentitäten der herrschenden Machtverhältnisse weder Freiheit noch Liebe verwirklicht werden können. Die „Theorie der Loslösung“ zeigte für Frauen einen Weg auf, ihre versklavten Identitäten zu überwinden, indem sie sich geistig, emotional und kulturell vom männlich dominierten System trennen. Seine Theorie der «Tötung des Mannes» ermutigte die Männer ihrerseits, die dominante Männlichkeit, die nicht nur ein Geschlecht, sondern ein riesiges System von Macht und Ausbeutung ist, sie zu bekämpfen und sie zu überwinden.

Die am 8. März 1998 verkündete Ideologie der Frauenbefreiung, brachte den Freiheitskampf der Frauen auf eine neue Stufe. Sie ist auf den Prinzipien begründet, die eigene Heimat zu lieben und gegen Kolonialismus zu verteidigen, frei zu denken und einen freien Willen als Frau zu entwickeln, sich zu organisieren und für die Befreiung zu kämpfen, sowie ein Leben mit einem freien ästhetischen Verständnis aufzubauen.

Ein Jahr später, im März 1999, wurde auf der Grundlage dieser Ideologie die erste Kurdische Frauenpartei unter dem Namen „Kurdische Arbeiterinnenpartei“ PJKK gegründet. PJKK wurde nach einer Erklärung eines Kongress‘ im Jahr 2000 zur „Frauenfreiheitspartei“ (PJA). 2004 wurde sie in die „Partei für die Freiheit der Frauen Kurdistans“ (PAJK) umstrukturiert. Seitdem spielen die Kämpferinnen der Frauenpartei weiterhin eine Vorreiterrolle im Befreiungskampf in allen vier Teilen Kurdistans.

Die Entführung und Inhaftierung von Abdullah Öcalan am 15. Februar 1999 im Rahmen einer NATO-Operation, war ein Angriff auf die Existenz des kurdischen Volkes an sich, insbesondere der kurdischen Frauen. Dieser Versuch, die Bewegung auszuschalten, blieb nicht unbeantwortet: das kurdische Volk und die kurdischen Frauen verstärkten ihren Widerstand für die Freiheit Kurdistans. Und selbst unter den Bedingungen der totalen Isolation auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali, hat Abdullah Öcalan einen Weg gefunden, Widerstand zu leisten und sein neues Paradigma für den Freiheitskampf voranzubringen und weiterzuentwickeln.

Auf der Grundlage jahrelanger historischer und gesellschaftlicher Analysen geht dieses neue Paradigma über die Lösung der Kurdenfrage hinaus und schlägt eine Gesellschaft vor, die auf Demokratie, Ökologie und Frauenbefreiung basiert. Hierarchische Machtstrukturen auf der Grundlage von Staat und Patriarchat werden als Kern aller Probleme der Menschheit identifiziert. Der Staat, der als Werkzeug der Macht und der patriarchalen Herrschaft erfunden wurde, kann kein Mittel zur Befreiung sein. Darüber hinaus reproduzieren sich Macht und Hierarchie nicht nur in Form von Strukturen und Institutionen, sondern auch ideologisch: durch Nationalismus, religiösen Fundamentalismus, Sexismus und Szientismus. Dagegen ist das Modell der natürlichen Gesellschaften, das auf gemeinschaftlichen egalitären Werten und der zentralen Rolle der Frau beruht, die Referenz für die Transformation zur Befreiung von Frauen und Gesellschaft.

  • Als Alternative zu staatlichen Strukturen und Mentalitäten entwickelt Öcalan das Konzept der multiethnischen, multikulturellen und vielsprachigen Demokratischen Nation. Der Geist und die Bedeutung der Demokratischen Nation werden in den Strukturen der Demokratischen Autonomie und des Demokratischen Konföderalismus verkörpert. Dies bedeutet Selbstverwaltung der Gesellschaft, getreu den Prinzipien von Demokratie, Ökologie, Freiheit der Frauen, Kommunalwirtschaft und Selbstverteidigung.
  • Macht und Hierarchien sind nicht nur politischer und militärischer Natur; sie basieren auf dem unterdrückenden Verhältnis von Männern gegenüber Frauen und reproduzieren sich in jedem Aspekt des Lebens. Ausgehend vom Wiederaufbau freier Geschlechterverhältnisse müssen alle Bereiche des Lebens auf der Grundlage demokratischer Prinzipien, Solidarität und Respekt neu überdacht werden. Öcalan schlägt eine radikale Demokratie vor, in der alle Identitäten und Minderheiten gleichberechtigt vertreten sind und an der alle direkt beteiligt sind.
  • Gegen die Verwüstungen von Krieg und Gewalt fördert Abdullah Öcalan die unabdingbare Notwendigkeit der legitimen Selbstverteidigung. Eine Gesellschaft ohne Selbstverteidigung ist zu Ausbeutung und Unterdrückung verdammt. In seiner Theorie der Rose veranschaulicht er insbesondere den Geist der Selbstverteidigung der Frauen: die kraftvolle Verteidigung der Stacheln der Rose harmonisiert mit dem Wesen ihrer eigenen Schönheit.

Seit 2005 sind Frauen aus allen vier Teilen Kurdistans, sowie kurdische Frauen im Exil und Frauen aus anderen Ländern, unter der „Konföderation der Gemeinschaften der Frauen Kurdistans“ (KJK) organisiert. Die KJK hat je nach lokalem Kontext verschiedene Gruppen und Organisationen gegründet, die ein gemeinsames Ziel verfolgen: eine gesellschaftliche Transformation auf der Grundlage frauenzentrierter egalitärer Werte, die die Bedürfnisse aller sozialen und ethnischen Gruppen anerkennt. Frauenkommunen, Räte, Akademien und Kooperativen wurden von der Basis aus als alternative Möglichkeit zur Organisation des Lebens und der Gesellschaft gegründet. Die KJK ist in allen Bereichen organisiert: von der Politik bis zur Organisation der Gesellschaft, von der Ökologie und Kommunalwirtschaft bis zum Gesundheitswesen, von der Bildungs- und Medienarbeit bis zur Kultur und Kunst, dem Aufbau von Strukturen lokaler Verwaltung, der Frauenjustiz und der Diplomatie. Die Frauenselbstverteidigung wurde je nach Situation in den verschiedenen Regionen auf unterschiedliche Weise organisiert.

Seit 2011 begannen Forschungsarbeiten und Diskussionen, um Jineolojî als eine alternative Wissenschaft von Frauen, Leben und Gesellschaft zu etablieren. Die Jineolojî-Akademie identifiziert Herausforderungen der Frauenrevolution und stärkt das Verständnis für das demokratische, ökologische Paradigma der Frauenbefreiung.

Die Frauenbewegung heute in ganz Kurdistan und der Welt; Frauenrevolution in Rojava

Selbst während des ständigen Kampfes gegen faschistische Diktaturen und Femizide, haben sich die kurdischen Frauen weiterhin sowohl autonom als auch als Teil der allgemeinen Befreiungsbewegung organisiert.

Seit der Gründung der ersten prokurdischen politischen Partei in der Türkei 1991, wurden viele kurdische Frauen mit den Stimmen des kurdischen Volkes und der fortschrittlichen Kräfte in der Türkei, zu Bürgermeisterinnen und Parlamentsabgeordneten gewählt. 2014 wurde das System des Ko-Vorsitzes – der gleichberechtigten Vertretung der Geschlechter – in allen von der Partei der Volksdemokratie HDP geführten Gemeinden eingeführt. Die AKP-Diktatur hat insbesondere Frauen, ihre demokratischen Errungenschaften und Institutionen ins Visier genommen. Tausende kurdischen Frauenaktivistinnen, darunter Bürgermeisterinnen und Abgeordnete, wurden eingesperrt und Hunderte Frauenvereinigungen und -organisationen wurden verboten. Aber die kurdische Frauenbewegung lässt nicht davon ab, jeden Angriff in einen neuen Schritt ihres Kampfes zu verwandeln.

Trotz grausamer staatlicher Unterdrückung und Hinrichtungen, die oft unsichtbar für die Außenwelt bleiben, hat die Freie Frauengemeinschaft Ostkurdistans KJAR im Iran Frauen heimlich organisiert und ausgebildet. Kurdische Frauen im Iran und in Ostkurdistan haben bemerkenswerte Kampagnen gegen die Todesstrafe, gegen Steinigung sowie gegen ethnische und geschlechtsspezifische Unterdrückung geführt.

Nach der Militärintervention gegen den Irak im Jahr 2003 erlangte Südkurdistan einen autonomen Status, und wurde zur kurdischen Region Iraks erklärt. Zwar beteiligten sich einige Frauen an der Parteipolitik, eine starke autonome Frauenbewegung an der Basis entwickelte sich jedoch nicht. Seit 2002 arbeitet die „Organisation der freiheitssuchenden Frauen Kurdistans“ (RJAK) an der Gründung lokaler Frauenvereinigungen und Akademien, organisiert Bildungsprogramme und Kampagnen zur Stärkung der Frauen und ihrer Stellung in Gesellschaft und Politik.

Die Organisation kurdischer Frauen in der europäischen Diaspora wurde in den 1980er und 90er Jahren angestoßen. Sie haben die kurdische Befreiungs- und Frauenbewegung weltweit bekannt gemacht, sich mit anderen Freiheitsbewegungen verbunden und wichtige Netzwerke der Solidarität und Bündnisse geschaffen. Sie haben sowohl zum Kampf in ihrem Heimatland beigetragen, als auch für ihre Rechte als kurdische Migrantinnen gekämpft. Auch Europa ist für kurdische Frauen kein sicherer Ort. Am 9. Januar 2013 wurde die Pionierin der kurdischen Frauenbewegung Sakine Cansız, zusammen mit ihren Genossinnen Fidan Dogan und Leyla Şaylemez in Paris vom türkischen Geheimdienst ermordet. Die kurdischen Frauen in Europa organisierten sich weiter und schufen 2014 den Dachverband der Kurdischen Frauenbewegung in Europa TJK-E.

Durch die Rojava-Revolution wurde die kurdische Frauenbewegung weltweit bekannt. Bei den Aufständen des «Arabischen Frühlings» 2011, begannen die Kurden und Kurdinnen in Westkurdistan – bekannt als Rojava – mit dem Aufbau ihres Systems der demokratischen Autonomie. Die Frauenverteidigungseinheiten YPJ erregten internationale Aufmerksamkeit durch ihren entschlossenen Kampf gegen den islamischen Staat. Von der Befreiung von Kobanê 2015, bis zum Widerstand gegen die türkische Besetzung von Efrin im Jahr 2018 und Serekaniye und Giresipî im Jahr 2019, spielten Kämpferinnen und Kommandeurinnen eine führende Rolle. Die Selbstaufopferung der YPJ-Kämpferinnen wurde durch die Persönlichkeit von Revolutionärinnen wie Arîn Mirkan und Avesta Xabur symbolisiert. Auch internationalistische Revolutionärinnen wie Ivana Hoffmann aus Deutschland, Alina Sanchez aus Argentinien und Anna Campbell aus Großbritannien, schlossen sich der Verteidigung der Frauenrevolution in Rojava an.

Frauenräte, -kommunen und -organisationen sind das schlagende Herz aller Lebensbereiche in Rojava. Frauen aller verschiedenen ethnischen, religiösen und kulturellen Gemeinschaften sind in der Frauenbewegung Kongreya Star organisiert.

Kongreya Star und die Frauenrevolution

Kongreya Star befähigt, mobilisiert und bildet Frauen zur Selbstorganisation aus, um sicherzustellen, dass die Rojava-Revolution eine Frauenrevolution wird und bleibt. Ein autonomes Frauensystem wurde in den Bereichen Wirtschaft, Politik, demokratische Bündnisse und diplomatische Beziehungen, soziale Organisation, Gesundheit, Bildung, Organisation junger Frauen, Justiz, Selbstverteidigung, Medien, Gemeinde und Ökologie, Kultur und Kunst entwickelt. Zehntausende Frauen, die auf die Rolle der Mutter und Hausfrau beschränkt waren, haben ihre Rechte eingefordert und beteiligen sich an der Organisation von Gemeinschaften, Frauenkooperativen und Institutionen. Viele Frauen beschreiben ihre persönliche Entwicklung innerhalb der Revolution als einen «Unterschied zwischen Tag und Nacht» und als «Beginn eines neuen Lebenskapitels».

Die «Frauengesetze» Nord- und Ostsyriens fördern die Freiheit und Gleichberechtigung der Frauen. Sie verbieten auch Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen in Familien- und Ehebeziehungen. So wurden zum Beispiel patriarchale Bräuche wie die polygame Ehe, die Eheschließung von Minderjährigen oder Ehen ohne die Zustimmung der Frauen verboten. Frauen und Männer haben die gleichen Rechte bezüglich Erbe und Scheidung.

Das System des Ko-Vorsitzes für die gleichberechtigte Vertretung der Geschlechter, ist auf allen Ebenen und in allen politischen und administrativen Strukturen der Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien vorhanden. Das politische Leben ist nicht mehr eine männlich dominierte Domäne.

In der Geschichte der kurdischen Frauenbewegung haben Zehntausende Frauen ihr Leben der Befreiung ihres Geschlechts, ihres Landes und ihres Volkes von der Kolonialherrschaft und dem Aufbau einer freien Gesellschaft gewidmet. Tausende Frauen waren lange Jahre inhaftiert, waren Folter und Grausamkeiten ausgesetzt. Frauen aus den politischen Bewegungen wie auch aus den Selbstverteidigungskräften wurden zu Märtyrern gemacht. Alle Errungenschaften der Rojava-Revolution sind das Ergebnis eines langen, schwierigen Kampfes und großer Opfer.

Der Grund dafür, dass diese Frauen bereit waren, so viel zu opfern, liegt darin, dass sie den Weg hin zum Wandel, zur Liebe und zur Schönheit sehen konnten. Jede im Kampf gefallene Frau lebt in den Müttern, Kämpferinnen und jungen Frauen von Rojava weiter, die ihr Leben und ihre Zukunft einfordern. Die kurdische Frauenbewegung ist noch immer eine Verkörperung der Parole, die von Anfang an gegolten hat: Widerstand ist Leben! Und das Ziel des Lebens ist Freiheit. Ohne die Freiheit der Frauen wird es kein freies Leben geben. Und so lautet ein weiterer Aufruf, der von der kurdischen Frauenbewegung in der ganzen Welt widerhallt: Jin! Jiyan! Azadi! Frauen! Leben! Freiheit!

Şervîn Nûdem

Einige der weiblichen Revolutionärinnen, die zu Symbolen im Kampf der kurdischen Frauenbewegung geworden sind:

Sakine Cansız (Sara) wurde am 09.01.2013 in Paris durch den türkischen Geheimdienst MIT ermordet.
Zeynep Kınacı (Zilan) verübte während einer Parade der türkischen Armee am 30.06.1996 in Dersim einen Selbstmordanschlag.
Binevş Agal (Bêrîvan) verlor ihr Leben in einem Kampf mit der türkischen Armee am 16.01.1989 in Cizîre Botan.
Zekiye Alkan hat sich am 31.03.1990 in Amed in Brand gesteckt, um gegen die Unterdrückung durch den türkischen Staat zu protestieren.
Gülnaz Karataş (Bêrîtan) stürzte sich von einem Felshang, um nach intensiven Kämpfen mit der türkischen Armee und kollaborierenden KDP-Peshmergas am 25.10.1992 in Xakurke / Südkurdistan nicht gefangen genommen zu werden.
Sanem Bertan (Canda, türkische Internationalistin) verlor ihr Leben im Widerstand gegen die türkische Invasion in der Region Zap in Südkurdistan am 5.10.1997.
Sema Yüce (Serhildan) steckte sich am 21.03.1998 im Çanakkale Gefängnis in der Türkei in einer Gefängniszelle in Brand.
Nermîn Akkuş (Hêlîn, tscherkessischer Internationalist) fiel am 13.10.1998 im Widerstand gegen die gemeinsame Operation der KDP und der Türkei in der Region Garê in Südkurdistan.
Andrea Wolf (Ronahi, Internationalist aus Deutschland), gefangengenommen und hingerichtet von den türkischen Soldaten während der Kämpfe in Catak / Nordkurdistan am 23.10.1998.
Fatma Özen (Rojbîn, arabische Internationalistin) opferte ihr Leben bei einem Angriff auf eine türkische Militärstation am 20.11.1998 in Gever / Nordkurdistan.
Uta Schneiderbanger (Nûdem, Internationalistin aus Deutschland) und Ekin Ceren Doruak (Amara, Internationalistin aus der Türkei) kamen am 30.05.2005 bei einem Autounfall im Qendil-Gebirge ums Leben.
Leyla Wali Hasan (Viyan Soran) hat sich am 01.02.2006 in der Region Haftanin / Südkurdistan in Brand gesteckt, um gegen die totale Isolation Abdullah Öcalans zu protestieren.
Şirin Elemhûlî (aus Ostkurdistan) wurde am 09.05.2010 vom iranischen Regime im Evin-Gefängnis von Teheran hingerichtet.
Dilar Gencxemîs (Arîn Mîrkan; aus Rojava) opferte am 05.10.2014 ihr Leben im Widerstand von Kobane gegen ISIS-Angriffe.
Seve Demir (Mitglied des DBP-Rates), Fatma Uyar (Mitglied der KJA) und Pakize Nayır (Ko-Vorsitzender des Volksrates von Silopi) wurden am 4.10.2016 in Silopi / Nordkurdistan von türkischen Staatskräften hingerichtet.
Zalûx Hemo (Avesta Xabûr) opferte am 27.01. 2018 ihr Leben im Widerstand gegen die türkische Besetzung von Efrîn / Rojava.
Anna Campbell (Hêlin, Internationalistin aus Großbritannien), kam am 15.03.2018 bei den Luftangriffen der türkischen Armee auf Efrîn / Rojava ums Leben.
Alina Sanchez (Lêgerîn, Internationalistin aus Argentinien), kam bei einem Autounfall am 17.03.2018 in Rojava bei der Ausübung ihrer revolutionären Arbeiten, ums Leben.
Sarah Handelmann (Dorşîn, Internationalistin aus Deutschland), fiel durch einen türkischen Luftangriff auf die Region Qandil am 07.04.2019.
Hevrin Xelef (Generalsekretär der Syrischen Zukunftspartei) wurde am 12.10.2019 in Rojava von den mit den türkischen Besatzungstruppen verbundenen dschihadistischen Gruppen, hingerichtet.

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